90 Jahre Radio- und Elektronikbaukästen –
vom Kristalldetektor zum DSP-Empfänger
von Klaus Leder
Abb. 1: Französischer Kristalldetektor mit Bleiglanzkristall und Schiebespule (1920er Jahre)
Zu
Weihnachten 2017 wurden Kindern und Jugendlichen wieder Computer,
Spielkonsolen, Robotermodelle und natürlich Smartphones geschenkt. Eine
immer kleiner werdende Nische ist die Radiobastelei, die sich seit der
Entstehungszeit des Rundfunks in den 1920er Jahren bis heute erhalten
hat - trotz der Konkurrenz des Computers und des abzusehenden Endes der
analogen Rundfunktechnik. Auch 2017 gab es wieder einen
Radio-Adventskalender von B. Kainka und von Firmen wie z. B. Conrad,
Franzis, ELV und Kemo werden weiterhin Radiobausätze für Jugendliche
und technikinteressierte Erwachsene angeboten.
Experimentierkästen
und Bauanleitungen aus den letzten 90 Jahren zeigen schlaglichtartig
die Entwicklung der Radiotechnik, der elektronischen Bauelemente, der
didaktischen Begleitmaterialien sowie gesellschaftliche Veränderungen
auf. Es ist interessant, am Beispiel der Baukästen den
wissenschaftshistorischen Weg der Empfangstechnik zu verfolgen. Der
kurze Rückblick auf die Radiobastelei beginnt beim Kristalldetektor und
endet beim DSP-Radio der heutigen Zeit.
1. Vom Funkensprung zum Detektorradio
Der
Engländer J. C. Maxwell hat 1864 theoretisch begründet, dass es eine
bis dahin unbekannte Strahlung gibt, die man später Radiowellen nannte.
Heinrich Hertz hat die Existenz der elektromagnetischen Wellen 1888 mit
Experimenten zum „Funkensprung“ an Dipolen nachgewiesen. Mit Versuchen
zur Brechung, Interferenz und Polarisation konnte Hertz die
Wesensgleichheit von Licht und elektromagnetischen Wellen beweisen.
Zur
drahtlosen Telegrafie nutzte der Franzose E. Branly 1890 den sog.
Kohärer (Fritter), mit dem aber keine Sprache sondern nur Morsesignale
übertragen werden konnten.
1896 hatte der italienische
Erfinder Guglielmo Marconi einen verbesserten Funkensender und -
empfänger gebaut, mit dem er Signale 15 Kilometer weit über den
Bristolkanal und 1901 über den Atlantik senden konnte. Zur gleichen
Zeit führte auch der russische Wissenschaftler A. Popow Experimente zur
Übertragung von Funksignalen mit einer geerdeten Antenne durch.
Der
Physiker F. Braun hatte 1874 den Gleichrichtereffekt zwischen
Metallsulfiden und einer Drahtspitze entdeckt. Im Gegensatz zu Marconi
legte Braun die Funkenstrecke nicht an die Sendeantenne sondern in
einen mit dem Antennenkreis induktiv gekoppelten Schwingkreis. 1899
baute er den ersten Kristalldetektor. Mit diesem Bauteil wurde die
Demodulation hochfrequenter Wellen und der Empfang von Sprache und
Musik in der Funktechnik möglich. 1913 konstruierte Braun die
Rahmenantenne zur Richtungsbestimmung eines Senders. Gemeinsam mit
Marconi erhielt Braun 1909 den Physik-Nobelpreis für die
Pionierleistungen auf dem Gebiet der drahtlosen Telegraphie.
Mit
dem Beginn des Rundfunks in Deutschland im Jahr 1923 begann auch die
Ära des Bastelns von Radios. Am Anfang der Empfangstechnik standen
Detektoren mit Bleiglanz- oder Pyritkristallen, auf denen mit einem
Draht eine geeignete Stelle mit Halbleitereigenschaften gefunden werden
musste (s. Abb. 1). Die Frequenzabstimmung des Schwingkreises konnte
induktiv mit Schiebespulen oder Variometern erfolgen. Bei der
kapazitiven Abstimmung wurden variable Kondensatoren wie z. B.
Drehkondensatoren eingesetzt (s. Abb. 2).
Mit den
Radio-Experimentierkästen, die von dem schweizer Sekundarstufenlehrer
W. Fröhlich konzipiert und ab 1934 von der Franckh‘schen
Verlagshandlung in Stuttgart unter dem Namen „Radiomann“ herausgegeben
wurden, konnten klassische Versuche der Funktechnik von Schülerinnen
und Schülern durchgeführt werden. Die Versuchsanleitung enthielt
Versuche zur Erzeugung von Funken und zu deren Empfang mit einer
Feilspanbrücke. Die Bedeutung von Antenne und Erde für die
modellartigen Kohärer-Versuche wurde erprobt. Mit Hilfe des
Kristalldetektors und einem mit einem Drehkondensator abstimmbaren
Schwingkreis konnten Radiosendungen mit einem elektromagnetischen
Kopfhörer gehört werden.
Abb. 2: Nachbau eines Radios mit Kristalldetektor, Korbbodenspule, Drehkondensator und elektromagnetischen Kopfhörern
Der
Reiz, mit wenigen Bauteilen und ohne eine Batterie ein Radio zu
basteln, hat das Interesse am Bau von Detektorempfängern bis in die
heutige Zeit erhalten. Anstelle des Kristalldetektors werden heute
Germaniumdioden verwendet, wobei die älteren Spitzendioden und
Schottkydioden aufgrund ihrer niedrigen Durchlassspannungen die besten
Ergebnisse liefern. Hochohmige Ohrhörer mit Piezokristallen haben die
alten elektromagnetischen Kopfhörer abgelöst (Abb. 3).
Abb. 3: Baukasten mit Germaniumdiode, Drehkondensator, Spule mit Ferritkern und Ohrhörer aus den USA (1980er Jahre)
Verlage
und Firmen wie z. B. Kosmos, Riess, Opitec und AK Modul Bus haben auch
in neuerer Zeit Bausätze für Detektorempfänger herausgegeben (Abb. 4).
In einem Video (YouTube) kann man dem wiener Experimentalphysiker
Werner Gruber beim Basteln eines Schiebespulendetektors mit einer
Klopapierrolle, Draht, einer Diode und einem Ohrhörer zusehen.
Abb. 4: Kosmos-Experimentierkasten „Detektor-Radio“ mit Drehkondensator, Zylinderspule, Germaniumdiode und Ohrhörer (1996)
2. Radioröhren und Audions
Der
Amerikaner Lee de Forest (1906) und unabhängig von ihm der Österreicher
Robert von Lieben gelten als die Erfinder der Elektronenröhre. Die von
ihnen gebauten Trioden ermöglichten mit der Audionschaltung eine
Demodulation und Verstärkung der Hochfrequenzsignale und lösten die
Detektorradios ab.
1913 konstruierte der Österreicher A.
Meißner bei der Telefunken-Gesellschaft in Berlin einen Röhrensender
mit Rückkopplung, mit dem er ungedämpfte Schwingungen erzeugen konnte.
Die von ihm anschließend entwickelten Empfänger mit Rückkopplung
übertrafen an Empfindlichkeit und Trennschärfe alle damals bekannten
Geräte und beflügelten die Radiobastelei. In den 1920er und 1930er
Jahren blühte der Selbstbau von Audiongeräten. In Zeitschriften und
Büchern wurden zahlreiche Bauanleitungen veröffentlicht.
In
der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Volksempfänger
(„Goebbelsschnauze“) preisgünstig hergestellt und zu einem wichtigen
Werkzeug der staatlichen Propaganda. Das Abhören von Feindsendern war
in den Kriegsjahren bei Androhung der Todesstrafe verboten.
Nach
dem Zweiten Weltkrieg hatten die Geradeausempfänger Audion und Detektor
aufgrund der Mangelsituation bei Bastlern erneut Konjunktur. Der
legendäre Bausatz „Heinzelmann“ von Max Grundig erschien 1947. Das
Versandhaus Radio RIM in München lieferte Bausätze und veröffentlichte
in den RIM-Jahrbüchern zahlreiche neue Schaltungen.
Für den
Experimentierkasten „Radiomann“ konnte eine Doppelgitterröhre RE074D
(Telefunken) oder U409D (Valvo), später eine DM300 hinzugekauft werden.
Mit der Radioröhre wurden u. a. folgende Versuche beschrieben: „der
Versuch von Edison, die Anodenbatterie saugt Strom aus der Anode, der
Einfluss des Gitters, die Rundfunkröhre als Verstärker, die Röhre als
Detektor, Audion, die Rückkopplung, einfacher Röhrensender, eigenes
Rundfunkkonzert“. In der 13. Auflage von 1960 (Abb. 10) wurde die
Pentode EF98 verwendet, die in den 50er Jahren für Autoradios
entwickelt worden war. Allerdings verschwanden in der Anleitung dieser
Auflage die Versuche zum Funken- und Röhrensender.
1958 hatte
die Franckh‘sche Verlagshandlung den Experimentierkasten „Radio +
Elektronik A“ von Ing. Heinz Richter herausgebracht (Abb. 5). Der
Ergänzungskasten D „Praxis der Fernsteuerung und Elektronenröhre“ von
1963 stellte die Elektronenröhre EF98 in den Mittelpunkt, obwohl er
zusätzlich einen Hochfrequenztransistor AF116 und einen Steuerquarz
enthielt. Auf dem Universalchassis des Grundkastens A und mit dem
Niederfrequenztransistor OC602 und dem Spezialrelais aus dem Kasten B
konnten zahlreiche Versuche im Mittelwellen- und Kurzwellenbereich
durchgeführt werden. Für Fernsteuerversuche enthielt der Kasten D ein
Spezialchassis für den Senderaufbau und zwei Kurzwellenspulen.
Abb.
5: Kosmos-Experimentierkästen „Radio + Elektronik A, B und D von Heinz
Richter mit Transistoren und Röhre EF98 (1958 und 1963)
In
dem umfangreichen Versuchsprogramm wurden u. a. folgende Versuche
beschrieben: die Gitterbasisschaltung, die Anodenbasisschaltung,
Anodengleichrichter mit Transistorverstärker in Transformatorkopplung,
Transistorverstärker mit nachgeschaltetem Röhrenverstärker. Für
Mittelwellen-Röhrensender konnten 7 Schaltungen aufgebaut werden, z. B.
Röhrensender in Dreipunktschaltung mit Bremsgittermodulation,
Röhrensender mit kapazitiver Dreipunktschaltung (Colpitts-Schaltung),
ECO-Sender mit Bremsgittermodulation.
Im Kurzwellenbereich
wurden 16 verschiedene Schaltungen für Röhrenempfänger und 8 für
Röhrensender erprobt, z. B. Röhrensender mit induktiver
Dreipunktschaltung, Röhrensender in Meißnerschaltung, quarzgesteuerter
Röhrensender für 27,12 MHz, Pierce-Schaltung, quarzgesteuerter
Meißner-Röhrensender, quarzgesteuerter ECO-Röhrensender.
Das
428 Seiten umfassende Buch „Radiotechnik für Alle“ von Heinz Richter
erläuterte in der 12. Aufl. 1961 radiotechnische Grundlagen
ausschließlich mit Radioröhren. Die Neubearbeitung in der 15. Auflage
von 1967 stellt dann den Transistor in den Mittelpunkt. Richter
schreibt in der Einleitung: „Die Röhre hat in der Radiotechnik
praktisch ausgespielt und ist nahezu gänzlich vom Transistor abgelöst
worden“.
Nach dem Siegeszug des Transistors setzte um die
Jahrtausendwende eine Rückbesinnung auf die Röhrentechnik ein, die bei
hochwertigen Verstärkern weiterhin verwendet worden war. Kosmos brachte
2004 eine Jubiläumsausgabe „70 Jahre Radiomann“ mit der Doppeltriode
ECC82 heraus. Schaltplan und Versuchsanleitung stammten von Burkhard
Kainka. Der Aufbau auf einer Holzkonsole erinnert an Vorbilder aus der
Anfangszeit der Röhrenradios in den 1920er Jahren (Abb. 6).
Abb.
6: Kosmos Jubiläumsausgabe „70 Jahre Radiomann“ mit der Doppeltriode
ECC82, Korbbodenspule, Luftdrehko und NF-Übertrager (2004). In das
Gehäuse wurde nachträglich ein NF-Verstärker mit Lautsprecher
eingebaut.
Von der Firma Conrad und vom Franzis Verlag
wurden 2009 und 2011 Retroradio-Bausätze von Burkhard Kainka mit der
chinesischen Röhre 6J1 aufgelegt und erfolgreich verkauft (Abb. 7). Die
Retro-Baukästen nutzen Röhren, die mit ungefährlichen
Batteriespannungen betrieben werden. Die Nachfrage zeigt, dass die alte
Röhrentechnik auch heute noch Interesse bei Bastlern findet, sei es
aufgrund des besonderen Klangs der Röhrenverstärker, aufgrund der
Durchschaubarkeit der Schaltungen oder aus Nostalgie.
Abb.
7: Franzis-Baukästen „Röhrenradio“, „Retroradio Deluxe“ und
„Röhrentechnik“ von B. Kainka mit der chinesischen Röhre 6J1 (2009,
2011)
Die japanische Firma Gakken hat in der Reihe
„Sophisticated Science Kit for Adults“ zwei „Vacuum Tube Radio Kits“
hergestellt, die Bauteile nach radiohistorischem Vorbild enthalten. Bei
dem ersten Bausatz handelt es sich um ein Audion mit der chinesischen
Röhre 1A2 (DK91) und einer Variometer-Abstimmung des Schwingkreises mit
zwei verdrehbaren Luftspulen (Abb. 8). In der reich bebilderten
Anleitung wird die Geschichte des Radios dargestellt und es werden
Versuche zur Anpeilung von Sendern mit einer Rahmenantenne beschrieben.
Abb.
8: Baukasten „Vacuum Tube Radio“ der japanischen Firma Gakken mit der
chinesischen Röhre 1A2, Drehko- und Variometerabstimmung
Der
zweite Bausatz mit den chinesischen Röhren 1K2, 1B2, 2P2 ist ein
0V2-Empfänger. Er ist mit einer Rahmenantenne, einem Hornlautsprecher
und einem mit einer Schraube einzustellenden „Klapp-Kondensator“
ausgestattet (Abb. 9).
Abb.
9: Baukasten „Vacuum Tube Radio Ver. 2“ der japanischen Firma Gakken
mit Rahmenantenne, Klappkondensator, Hornlautsprecher und den
chinesischen Röhren 1K2, 1B2, 2P2
3. Transistoren erobern die Welt
Im
Jahr 1945 war in den USA eine elektronische Rechenmaschine namens
„ENIAC“ im Einsatz, die mit 18 000 Röhren arbeitete, etwa 30 Tonnen wog
und den Platz einer 140-Quadratmeter- Wohnung beanspruchte.
Die
amerikanischen Physiker John Bardeen, Walter Brattain und William
Shockley arbeiteten in den Bell Laboratories in New Jersey mit den
Halbleitern Germanium und Silicium, um einen Ersatz für die
großen, schwerfälligen und empfindlichen Vakuumröhren zu finden. 1947
erfanden sie den Transistor, der aus einer Kombination von dotierten
Halbleitern in drei Schichten bestand. Wenn bei einer npn-Anordnung von
Germaniumkristallen ein kleiner Strom auf die mittlere Schicht (Basis)
geleitet wurde, führte das zu einem großen Strom auf der Strecke
zwischen Emitter und Kollektor. Die neuen Halbleiterverstärker und
-schalter ermöglichten eine Verbesserung, Verkleinerung und
Verbilligung
beim Bau von Computern, Verstärkern und Radios, die mit viel weniger
Energie arbeiten konnten. Das IC wurde erst sehr viel später von Jack Kilby und andern erfunden.
Der Transistor sicherte den USA den
Vorsprung in Computertechnik und Raumfahrt. Die Mercury-, Gemini- und
Apolloraumschiffe waren mit Transistoren für Steuerungs- und
Regelungsfunktionen und für die Kommunikation ausgestattet. Die moderne
Halbleitertechnik ermöglichte 1969 die erste Mondlandung mit Apollo 11.
Mit der Transistortechnik begann die Blütezeit der
Elektronik-Experimentierkästen. Der „Radiomann“ der 13. Auflage von
1960 enthielt erstmals einen Transistor OC71 und eine Germaniumdiode
von TeKaDe. Das Versuchsprogramm wurde um 38 Versuche erweitert, die
sich durch die hervorragende Didaktik W. Fröhlichs auszeichneten. Die
Funktionen von Diode und Transistor wurden mit hydraulischen Modellen
sehr anschaulich erklärt (Abb. 10).
Unabhängig von dem im
elterlichen Wohnzimmer thronenden Röhrensuper konnten Schülerinnen und
Schüler mit selbstgebastelten einfachen Transistorschaltungen Radio
hören und gewannen damit Freiheit. Unter der Bettdecke konnten sie die
Musik der Beatles mit dem Kopfhörer genießen, ohne gestört zu werden
oder andere zu stören. Mit den kleinen Transistorradios wurde
Radiomusik für Jugendliche überall verfügbar, ob auf dem Fahrrad, im
Schwimmbad oder im Partykeller.
Abb.
10: Kosmos-Experimentierkasten „Radiomann“ von W. Fröhlich (1960).
Aufbau von Röhrenaudion mit EF98 und Radio mit Germaniumdiode und
Transistor OC71 (AC173)
Auch andere Firmen entwickelten
Elektronik-Experimentierkästen. Der aus Veröffentlichungen in der
„Radio-Praktiker-Bücherei“ bekannte Autor Herbert G. Mende schuf
1963–1965 drei Funk- Stabo Experimentierkästen, die von GETA Hans Kolbe
& Co, Hildesheim herausgegeben wurden (Abb. 11). Der Funk-Stabo 1
erklärte ausführlich die Funktechnik und ermöglichte den Bau eines
Reflexempfängers mit dem Transistor AF116 für Kopfhörerbetrieb. Der
Ergänzungskasten Funk- Stabo 2 brachte Lautsprecherempfang mit den
Transistoren OC70 und OC71 und einem Anpassungstransformator. Der
Funk-Stabo 3 ermöglichte den Bau eines Superhet-Empfängers mit zwei
weiteren Transistoren AF117, einem Drehkondensator mit Abstimmkupplung,
einer Oszillatorspule und einer Ferritantenne.
Das Neue an den
Lehrmittelkästen von Stabo war die ungewöhnliche Verbindungstechnik mit
Leitungsschienen an Stelle von Drähten, die auf und unter eine
Acryl-Montageplatte geschraubt wurden. Mende schreibt in der Anleitung:
„Sie ähnelt in ihrem Aufbau und in der Art der Leitungsführung,
einschließlich des Problems, Leitungskreuzungen zu beherrschen,
weitgehend der modernen Technik der gedruckten Schaltungen, die heute
in jedem Radio- und Fernsehempfänger und in vielen elektrischen Geräten
des täglichen Bedarfs vorherrschen“.
Abb. 11: Funk-Stabo-Experimentierkästen 1 (1963), 2 (1964) und 3 (1965) von H. G. Mende
1974
erschien die Jubiläumsausgabe des Buches „Radiobasteln für Jungen“ von
Heinz Richter, das seit der Erstauflage 1955 mehr als 100.000 Mal
gedruckt wurde. Der Autor schreibt in der Einleitung: „Jeder von euch
hat wohl schon einmal die Rückwand eines Empfängers abgeschraubt und
mit Bewunderung die vielen Einzelteile in dem dunklen Gehäuse
betrachtet. Warum sitzt dort ein Transistor? Wie ist er gebaut? Welchen
Zweck hat jenes kleine Metallkästchen? Solche Fragen stellt jeder echte
Junge, und dieses Buch will sie beantworten. Ihr findet darin aber
nicht nur eine Erläuterung der Wirkungsweise, sondern gleichzeitig noch
etwas viel Schöneres, nämlich Anleitungen zum Selbstbau!“. Für die
Beschaffung der Einzelteile gibt Richter den Rat: „Aber Taschengeld
habt ihr ja, und wenn ihr dem Vater gute Zeugnisse vorlegt, bewilligt
er euch auch außer der Reihe etwas“.
Das aufwendigste und
umfangreichste Elektronik-Experimentierkasten-System schuf H. Richter
mit dem Elektronik-Labor XG, das von der Franckhschen Verlagshandlung
1966 bis 1974 herausgegeben wurde (Abb. 12). Die Deckel der fünf Kästen
warben mit Bildern von Technikern, die an Rechenanlagen, an einem
Elektronenmikroskop, an einer Fließbandsteuerung, im Tonstudio, in
einem Weltraumkontrollzentrum oder auf einer Baustelle mit
Sprechfunkgeräten arbeiten.
Die Anleitungsbücher trugen den
Titel „Telekosmos-Praktikum“ und wendeten sich an 14-15jährige
Jugendliche und Erwachsene. Der Grundkasten „Elektronik-Labor XG“ bot
180 Versuche mit 80 Schaltungen aus Radiotechnik und Elektronik, die
mehr und mehr in den Vordergrund rückte. Der Superzusatz XS ermöglichte
u.a. den Bau eines 5-Transistor-4-Kreis-Radio-Superhets. Der
Ergänzungskasten XR war der elektronischen Regel-und Steuerungstechnik
und den Grundschaltungen der Computer-Technik gewidmet. Der Kasten XU-1
erschloss den UKW- und Kurzwellenbereich, Kasten XU-2 die
Fernsteuertechnik mit dem Bau eines quarzgesteuerten,
tonfrequenzmodulierten Fernsteuersenders. H. Schwab und S. Wilhelm
brachten 1974 noch einen Zusatz XZ auf den Markt, mit dem sich
aufwendige Schaltungen wie Flüssigkeitspegelmesser, Gewittermelder,
elektronisches Schlagzeug oder Tonbildschau mit diskreten Bauteilen
verwirklichen ließen.
Abb. 12: Kosmos Elektronik-Labor XG (1966), XS (1967), XR (1969), XU-1, XU-2 (1971) und XZ (1974) von Heinz Richter
Von
1974 bis 1983 wurden von der Deutschen Philips GmbH, Hamburg zahlreiche
Elektronik- Experimentierkästen der EE-Reihe herausgegeben, für die der
aus Fernsehsendungen bekannte Professor Dr. Heinz Haber in einem
Vorwort schrieb: „Jungen Menschen von heute ist es eine
Selbstverständlichkeit, daß man mit elektronischen Hilfsmitteln
eigentlich jede praktische Aufgabe der Automatisierung lösen kann.
Feuchtigkeitsfühler und Zeitschalter für den Wecker, Einbrecher-
Alarmanlagen und Lichttonbetriebsanzeiger, UKW-Radios und
Telefonverstärker, Lichtkontrollanlagen und Tonblenden. Solche Geräte
lassen sich mit den Philips Elektronik- Experimentierkästen mit den
einfachsten Mitteln herstellen. Es liegt auf der Hand, daß es einem
jeden Jungen, und auch jedem Mädel, einen viel größeren Spaß bereitet,
diese raffinierten Produkte der modernen Elektronik selbst
zusammenzubasteln, als sie etwa für einen vielfachen Preis fertig zu
kaufen“.
Abb.13: Philips-Experimentierkasten EE2003 (1974) und Ergänzungskasten EE2005 (1975)
Im
anderen Teil Deutschlands, der DDR, wurde Mitte der 1960er Jahre der
Baukasten „Der junge Funktechniker“ von der Moritz Hädrich KG in
Saalfeld/Thüringen hergestellt. Entwickler und Konstrukteur war Peter
Grübe, der auch nach der Enteignung und Umwandlung der Firma zum VEB
Polytronik Saalfeld den Transistor-Baukasten „Elektronik 1“ Anfang der
1970er Jahre schuf. Später wurde das „Baukastensystem Polytronik ABC“
(Autor: R. Müller) herausgegeben, das bis in die 1980er Jahre verkauft
wurde (Abb.14). Die Anleitungsbücher zeichneten sich durch klare
Strukturierung und gute Erklärungen der Schaltungen aus.
Abb. 14: Polytronic-Experimentierkasten „ABC“, Audion-Aufbau mit 2 Transistoren SC236 aus DDR-Produktion (1980er Jahre)
Die
analogen Schaltungen mit Schwingkreisen, aktiven und passiven
Bauelementen für Verstärker waren durchschaubar gewesen und besaßen
damals für Schülerinnen und Schüler Motivations- und Lernpotenziale. Es
ergaben sich vielfältige Möglichkeiten für Verbesserungen und
Erweiterungen der selbstgebauten Empfänger. In der DDR blieb aufgrund
der Mangelsituation und der hohen Preise für elektronische Geräte das
Hobby des Radio- und Elektronikbastelns länger erhalten als in der
Bundesrepublik.
4. Vom Integrierten Schaltkreis zum DSP-Radio
Elektronische
Schaltungen bestanden bis zum Jahr 1958 aus einzelnen Transistoren, die
auf einer Leiterplatte oder Platine miteinander verbunden waren. Dem
amerikanischen Ingenieur Jack Kilby gelang es in diesem Jahr, den
ersten integrierten Schaltkreis auf einem Stück Halbleiter zu bauen.Die
Herstellung der Mikrochips konnte durch spezielle physikalische und
chemische Verfahren zu immer höherer Integration weiterentwickelt und
perfektioniert werden. Anfang der 1970er Jahre konnten Chips mit
einigen Tausend Transistoren hergestellt werden, heute sind es mehrere
Milliarden.
Den ersten Mikroprozessor stellte die Firma Intel 1971 mit dem Intel
4004 her, der in Taschenrechnern eingesetzt werden konnte.
Mikroprozessoren, sog. „programmierbare Logikschaltkreise“, wurden
immer leistungsfähiger und finden heute in allen Bereichen Anwendung.
Dampfmaschine und Elektrizität gelten als Antreiber der 1. bzw. der 2.
Industriellen Revolution. Durch Mikroelektronik und
Informationstechnologie wurde um 1970 das Tor zur 3. Industriellen
Revolution aufgestoßen.
2011 brachte die Firma Silicon Labs den Chip SI4844 heraus, der alle
Funktionen eines AM- und FM-Empfängers auf einem Chip integriert. Der
One-Chip-Receiver enthält einen digitalen Signalprozessor (DSP), der
HF-Eingangssignale digitalisiert, verarbeitet und am Ausgang wieder
analoge Audiosignale zur Verfügung stellt.
Wie beim Transistor vor 70 Jahren ist mit der DSP-Technik ein
Paradigmenwechsel im Radiobau erfolgt. Digitale Auswertung von
Hochfrequenzsignalen mit Mikroprozessoren ersetzt konventionelle,
analoge Schaltungstechnik. Damit wird die Radiofertigung stark
vereinfacht und verbilligt. Die Erfindung der DSP-Radios hat auch
soziale Auswirkungen. Die Ein-Chip-Radios werden armen Menschen in
Entwicklungsländern den Empfang von Weltnachrichten auf Kurzwelle
ermöglichen und sie unabhängig von netzbasierten Informationsträgern
machen. Durch die weite Verbreitung von den kleinen, billigen
DSP-Radios werden Warnungen vor Naturkatastrophen die Menschen früher
erreichen.
Seit Mitte der 1970er Jahre haben ICs und Mikroprozessoren auch bei
Elektronik-Baukästen Einzug gehalten. Experimentierkästen werden
seitdem nicht nur mit diskreten Transistoren sondern auch mit ICs
ausgerüstet.
Die Firma Busch in Viernheim/Hessen bot von 1976 bis Ende der 1990er
Jahre mit dem „Elektronik-Studio 2070“ ein ambitioniertes
Experimentiersystem an, das aus einem eleganten Pultgehäuse mit
Lochplatten und rauchglasfarbiger Abdeckhaube sowie Steckbausteinen
bestand. In Zusammenarbeit mit dem Elektronik-Magazin „ELO“ des Franzis
Verlags wurden Ergänzungskästen zur IC-Verstärkertechnik und zur
Digitaltechnik sowie Kästen zur Radiotechnik und Opto-Elektronik
entwickelt. Mit dem „Busch-Microtronic“ von Jörg Vallen wurde 1981 ein
betriebsfertig installiertes Mikro-Computer-System mit 24 Funktions-
und Programm-Steuertasten und einer 6-stelligen Leuchtanzeige angeboten
(Abb. 15).
Abb.
15: Busch „Elektronik-Studio 2070“ (1976) und Ergänzungskästen
„Radio-Technik und Opto- Elektronik“ (1981), „Digital-Technik“ (1977)
und „Microtronic Computer-System“ (1981).
Der
Franckh-Kosmos Verlag gab 1979 das Elektronik-Labor E200 heraus, dessen
3 Aufbauplatten mit 4-Loch-Steckfedern des sog. KOSMOtronik-Systems
versehen waren (Abb. 16). Original- Industriebauteile konnten so
schnell miteinander verbunden werden. Das fertiggestellte Gerät
vermittelte mit dem Messinstrument einen professionellen Eindruck. Mit
dem Vierfach- Operationsverstärker TDB 0124DP konnten zahlreiche
Versuch aus der Radiotechnik (MW, KW, UKW), NF-Technik, HF-Technik,
Analogrechnertechnik, Digitaltechnik, Opto-Elektronik und Messtechnik
durchgeführt werden. Es gab den Ausbaukasten E201 „Digital-Praxis“ mit
2 Zählern und 2 Ziffernanzeigen. Der Labor-Ausbau E202
„Infrarot-Praxis“ mit Sende-Diode und Fototransistor ermöglichte
optoelektronische Versuche. Mit dem Labor-Ausbau E203 „Hifi-
Praxis“
konnte man einen 2x10 W Stereo-Verstärker mit zwei integrierten
Leistungsverstärkern bauen. Die „Bio-Elektronik“ war Thema des
Ausbaukastens E204, der ein IC LM324N enthielt. Das
Elektronik-Labor-System E200 war aufgrund der Themenvielfalt und der
Einbeziehung einiger mathematischer Formeln der anspruchsvollste
Experimentierkasten von Kosmos.
1986 bot Kosmos den Kasten
„electronic X3000-X4000“ an, der ebenso wie der Nachfolger „XN3000“
(1992) wieder eine Pultform des Experimentierfeldes aufwies.
Abb. 16: Kosmos-Elektronik-Labor E200 (1979) mit Ergänzungskästen E201 „Digitalpraxis“ und E204 „Bio-Elektronik“ (1980)
In
den Jahren 2008-2012 entwickelten die Firma Conrad und der
Franzis-Verlag eine Reihe von „Retro-Radio-Bausätzen“ für MW, KW und
UKW, die in praktische Gehäuse eingebaut werden konnten (Abb. 17). Die
Schaltungen und Bauanleitungen stammten von Burkhard Kainka.
Abb. 17: Retro-Radios für MW, UKW und KW von Franzis und Conrad (2008-2012)
2013
gab der Franzis Verlag einen Radiobaukasten von Dr. Martin Müller mit
zwei ICs heraus, die den Audioverstärker LM386 und das IC CD4007
enthielten (Abb. 18). Damit konnten verschiedene Diodenempfänger,
Audion- und Superhetschaltungen für MW, LW, KW und UKW auf zwei
Steckbrettern aufgebaut werden.
Abb. 18: „Der große Franzis Radiobaukasten“ (2013) mit LM386 und CD4007 von Dr. M. Müller
Seit
2011 werden von der Firma Conrad und vom Franzis Verlag Adventskalender
mit Radiobausätzen angeboten, die B. Kainka entwickelt hat (Abb. 19).
Der Bausatz von 2011 enthielt das MW-IC TA7642, im Dezember 2012 und
2013 war eine Radio-Platine mit dem TDA7088 für ein UKW-Radio im
Kalender und seit 2014 wird der Digital-Radiochip BK1068 beigegeben.
Trotz der Nutzung von Radiochips sind die Kalender aufgrund der
Versuchsbeschreibungen lehrreich und beliebt. Sie bringen für
jugendliche Bastler zahlreiche Informationen und Erkenntnisse zur
Elektronik.
Abb. 19: „Adventskalender-Radiobausätze“ von B. Kainka (2011, 2012, 2014)
Mit
den sehr billigen und leistungsstarken DSP-Radios aus China ist das
Ende der Radiobastelei eingeläutet worden. Bei den neuen DSP-PLL-Radios
mit Display müssen nur noch eine Batterie, ein Antennenkabel und ein
Lautsprecher an eine Platine angeschlossen werden (Abb. 20 u. 21).
Abb. 20: Platine des DSP PLL FM Receiver Moduls aus China (2018)
Die
Zeiten, als Radiobastler Schaltpläne studierten, Bauteile bestellten,
Spulen wickelten und ihre Empfänger auf einer Platine zusammenlöteten
sind lange vorbei. Die umfangreichen und differenzierten
Versuchsprogramme der Elektronikkästen der 1960er, 1970er und 1980er
Jahre spiegeln etwas von der damaligen Aufbruchstimmung und
Bastelkultur wider. Die Jugendlichen hatten für das Selbstbauen und
Experimentieren viel mehr Zeit als heute, wo Computer, Internet und
Smartphone allgegenwärtig sind. Das Argument der Kostenersparnis ist
mit den billigen Importen von Elektronik aus Asien hinfällig geworden.
Allein das technische Interesse und die zu einem hör- und sichtbaren
Erfolg führende Handarbeit bleiben Antriebe des Experimentierens und
Bastelns.
Die aktuellen Zeiten des Internets bieten jedoch durchaus auch viele
praktische Vorteile. So ist es für Bastler, aber auch Betriebe möglich,
qualitativ hochwertige Leiterplatten aus Europa zu beziehen. Bei Multi
Circuit Boards können bei der Leiterplattenfertigung unter anderem
sogar individuelle Sonderanfertigungen umgesetzt werden. Damit können
Unternehmen ganz einfach ihre Leiterplatten online bestellen
und das sowohl auf einem hohen technischen Niveau als auch zu einem
guten Preis. Es bleibt zu hoffen, dass auch Selbstbauer weiterhin
neugierig und experimentierfreudig bleiben, denn es gibt so viele
Möglichkeiten sich technisch auszuprobieren.
Abb. 21: DSP PLL FM-Receiver Modul aus China, eingebaut in eine transparente Box (2018)
Seit
den 1980er Jahren sind neue Gebiete für Bastler erschlossen worden.
Roboter, Mikroprozessoren und deren Programmierung sind für
Schülerinnen und Schüler neue Herausforderungen und Betätigungsfelder
geworden.
Es ist jedoch zu begrüßen, dass Firmen wie z. B.
Franzis, Conrad und ELV auch heute noch Radio- Bausätze herausgeben.
Damit wird etwas vom Weg der Nachrichtentechnik des vergangenen
Jahrhunderts aufgezeigt und ein Stück Technikgeschichte in das
Bewusstsein gerückt, das den Bau der heute von allen gerne genutzten
Smartphones erst ermöglichte. Gleichzeitig werden beim Basteln manuelle
und handwerkliche Fähigkeiten erworben, die bei der heutigen
Schülergeneration immer weniger ausgebildet und gefördert werden.
(s. Alte Experimentierkästen in neuer Funktion)
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Siehe auch: K. Leder, B. Kainka, Geschichte der Radio- und Elektronik-Experimentierkästen